Die ersten Sonnenstrahlen blinzeln durch die Baumkrone und kitzeln Lilly wach, die noch immer zusammengerollt auf dem Hügelnest liegt. Vorsichtig öffnet sie die Augen, geblendet von der Morgensonne. Mit einem tiefen Atemzug saugt sie die frische Frühlingsluft ein. Langsam erwachen ihre Lebensgeister. Sie räkelt und streckt sich, schaut sich fragend um. Dann dämmert es ihr, warum sie nicht gemeinsam mit ihren Artgenossen im großen Schlafsaal die Nacht verbracht hat.
Die Erinnerungen an den gestrigen Abend kehren zurück, wie sie in Gedanken versunken in die Ferne blickte und darüber in einen tiefen Schlaf verfiel. Auch an ihren wunderschönen Traum, ihrer Reise in die große weite Welt, erreicht nun ihr Bewusstsein.
Sie stößt einen tiefen Seufzer aus und denkt: "Ach du dumme, kleine Lilly. Was du wieder für Träume und Wünsche hast. Du und die große weite Welt, dass ich nicht lache. Träum' weiter. Es liegt ein arbeitsreicher Tag vor dir."
Nach einer kurzen Katzenwäsche begibt sie sich zum Speisesaal, in dem das Frühstück für all die fleißigen Waldameisen bereits angerichtet ist. Es herrscht hektisches Treiben und es dauert, bis Lilly mit ihrem Teller voller Honigtau und frischen Borkenkäfern einen freien Platz ergattert hat. Ach, ihr jüngster Zögling Fridolin sitzt direkt neben ihr. Das ist in diesem Gewusel ein wahres Wunder. Viel Zeit zum Reden bleibt den beiden nicht, denn die Pflicht ruft. Wie an jedem Tag.
Heute steht der Weiterbau des neuen Ameisenhaufens im westlichen Teil ihres Schutzgebietes auf dem Plan. Keine leichte Aufgabe, da es mehr und mehr Wesen gibt, die sich in diesem Teil des Waldes aufhalten. Neue, fremdartige Gebilde sind entstanden und ziehen viele sogenannte Menschen mit ihren Kindern in ihr Territorium. Das macht das Arbeiten nicht gerade leichter. Ständig müssen sie irgendwelchen beweglichen Hindernissen aus dem Weg gehen, da sie sonst um Leib und Leben bangen müssen. Lilly hat da mal etwas mitbekommen über die Ameisen Hotline, es handelt sich um Füße und Fahrräder oder wie auch immer, die zum Waldspielplatz möchten. Aber alles Jammern hilft nicht. Sie stellt ihren Teller auf das Spül-Tablett und macht sich an die Arbeit.
Ihr will aber auch nichts wirklich gelingen. Wo ist sie nur mit ihren Gedanken? Überall, nur nicht bei der Arbeit. Als ihr dann noch zu allem Überfluss ein herunterbrechender Ast fast die Rübe weghaut, hat sie die Nase gehörig voll.
So, wie am gestrigen Tag, begibt sie sich auf das Hügelnest, auf dem heute Baustopp herrscht. Wie gut, hier ist sie wenigstens ungestört und ihr Blick schweift in die Ferne, zum Horizont. Dort, wo gestern die untergehende Sonne den Himmel in herrlichen roten Farbtönen strahlen ließ. Die Erinnerung an ihren Traum kehrt zurück.
Unsanft wird sie aus ihrem Tagtraum gerissen. Es ist Mittagszeit. Der Ameisenclan trifft sich am Fuße des Hügelnestes. Für Heute ist ein Picknick angesagt. Eine Köstlichkeit nach der anderen wird aufgetischt. Das geht von Insekten jeglicher Art über Honigtau, Baumsäfte zu Pilzen und den vorzüglichen Borkenkäfern. Hier bleiben keine Wünsche offen.
Aber Lilly ist nicht nach Essen zumute. Sie schaut sich das wuselige Treiben von oben aufmerksam an und dann fällt es ihr wie Schuppen von den Augen. Welch ein Irrsinn. Wie viele Jahre mache ich das alles schon mit? Da muss es doch noch mehr geben, in meinem Ameisenleben.
In diesem Augenblick trifft Lilly eine Entscheidung, die ihr Leben vollkommen verändern wird.
Kommentar schreiben